Visit Estonia: Über die Hügel des Tartu Marathon

Norbert Gütlein beim Tartu Maraton

Puh, jetzt hätte es mich fast noch erwischt! In einer Abfahrt stürzt vor mir ein Läufer und reißt noch einen anderen mit. Die beiden schlittern vor mir über die Loipe, ein Ski löst sich und der aufwirbelnde Schnee verdeckt die Sicht. Ich rette mich durch einen Ausflug ins ungespurte Gelände. Kurzes Umtreten und ich bin zurück auf der Strecke, als die beiden noch kopfschüttelnd auf dem Hosenboden sitzen.

Start Tartu Maraton © Tarmo Haud / www.tarmohaud.ee

Ich bin beim Tartu-Skimarathon in Estland. Etwa ein Drittel der 63 km langen Strecke ist absolviert, das Feld ist noch recht dicht zusammen. Pünktlich um 9 Uhr haben sich in dem aus dem Weltcup bekannten Skistadion Tehvandi in Otepää über 2.500 Läuferinnen und Läufern gleichzeitig in Bewegung gesetzt. Die Zäune zwischen den Startblöcken wurden eine Minute vor dem Start entfernt, das Feld ist daraufhin dicht zusammengerückt. Kritiker bemängeln diese Art des Massenstarts schon lange, aber die Organisatoren, die ihr Handwerk nachweislich bestens beherrschen, werden wohl Gründe für ihre Spielart haben. Wahrscheinlich ist es einfach wichtig, dass alle miteinander loslaufen, wenn eine kleine sportbegeisterte europäische Nation ihr jährliches großes Langlauffest zelebriert. Von weiter hinten ist es jedenfalls ein eindrucksvoller Anblick, wie sich das große Feld durch die Hügel hinter dem Stadion schlängelt.

Ja, diese Hügel! Fotos von der Strecke, die sich malerisch durch die verschneite Landschaft windet, waren es, die mich dazu gebracht haben, nach Jahren der Abstinenz vom Skimarathon gerade bei diesem Rennen wieder ins Geschehen einzusteigen. Um mich nicht durch organisatorische Aufgaben ablenken zu lassen, habe ich das Rundum-Sorglos-Paket gewählt und die Reise beim Schweizer Reiseveranstalter Sandoz Concept gebucht. So ist für Anreise, Hotel, Anmeldung und lokale Transporte gesorgt und man bekommt noch ein harmonisches Team und einen sachkundigen Betreuer dazu. Laufen muss man allerdings noch selbst. Und letzteres hat es dann in sich. Schon kurz nach dem Start zeigen die Hügel Estlands ihre Zähne, denn nicht alle sind so flach konturiert wie die auf den Werbefotos. Sehr häufig geht es, wenn auch kurz, einigermaßen steil hoch. Diagonal auf Zehenspitzen geht, kostet aber Kraft, ebenso schnelles Hochspringen. Aus Vernunftgründen entscheide ich mich für raumgreifendes Hochstapfen, was im mehligen Schnee auch mit nur leicht ausgegrätschten Skiern funktioniert und sogar den einen oder anderen risikofreien Überholvorgang ermöglicht. In den bis zu acht parallelen Spuren geht das natürlich auch, erfordert aber wegen des dichten Feldes erhöhte Aufmerksamkeit.

Wie in einem Werbevideo zieht die traumhafte Landschaft Estlands an mir vorbei. Hügel (reichlich!), Seen mit dichtem Schilfgürtel, Wiesen, Hecken, Bauminseln, malerische Bauernhäuser und Wälder, durch die die Strecke in eigens breit ausgeholzten Schneisen führt, bilden die prächtige parkartige Kulisse, die den Tartu-Marathon so einzigartig macht. Jetzt verstehe ich, wie wichtig den Veranstaltern die Austragung auf der Originalstrecke ist. Noch im Januar herrschte Krisenstimmung und es hieß: „not enough snow to ski“. Inzwischen hat es nicht gerade üppig aber ausreichend geschneit und man konnte in den Modus „Wintermärchen“ wechseln. Zusammen mit der Kurzstrecke, dem eine Woche vorher ausgetragenen Open Track, einem Staffelmarathon und Jugendrennen kommt man auf über 5.200 Teilnehmer. Längst nicht so viele wie bei den ganz großen Worldloppet-Rennen, aber die Atmosphäre ist gleichermaßen inspirierend.

Norbert Gütlein beim Tartu Maraton © Tarmo Haud / www.tarmohaud.ee

Nach ca. 15 Kilometern wird der höchste Punkt der Strecke erreicht, ein Berg, der vor allem dadurch als solcher erkennbar ist, weil er einen Aussichtsturm trägt. Immerhin geht es anschließend etwa drei Kilometer in einer Serie harmloser Abfahrten bergab und man kann sich etwas erholen, bevor das alte Lied mit dem Auf und Ab über die vielen kleinen Anhöhen wieder losgeht und man in einem längeren Abschnitt fast wieder auf 200 Meter über dem Meer kommt. Die noch zu laufende Strecke wird bei jedem Kilometer angezeigt, und so kann jeder seine eigenen mathematischen Spielchen mit der Reststrecke anstellen. Ich teile sie mir diesmal in 10-Kilometer-Blöcke ein und nehme die zahlreich vorhandenen Verpflegungsstellen als zusätzliche willkommene Abwechslung wahr. Dort gibt es als Getränke Tee, Iso und Blaubeersuppe, an fester Nahrung Bananen, Rosinen, ein Gebäck ähnlich wie Apfelstrudel und – Überraschung – saure Gurken. In meinem (also hinteren) Teil des Feldes nimmt man diese Stopps gerne an. Ich bewege mich entlang meiner persönlichen Schwelle, wo es zwar schon etwas weh tut, aber ich mir sicher sein kann, dass der „Mann mit dem Hammer“ außen vor bleibt. Im Januar habe ich mir noch eigens den ähnlich langen Pustertaler Skimarathon verordnet. Der Effekt dieser als Abhärtung durchgeführten Maßnahme ist aber leider nicht wirklich fühlbar.

Norbert Gütlein beim Tartu Maraton © Mait Marttila/Sportfoto.com

Nach etwa vierzig durchlaufenen Kilometern wechselt die Szenerie. Zunächst geht es vermehrt bergab, dann eher flach, bevor der letzte leicht wellige Abschnitt zum Ziel führt. Die Strecke verläuft hier fast ausschließlich durch Waldschneisen. Das Feld ist jetzt auch etwas lichter, so dass die Starter des 30-Kilometer-Rennens ausreichend Platz zum Überholen haben. Die vorherrschende Technik ist nun Doppelstock, mit und ohne Zwischenschritt. Mein Ski hat das ganze Rennen über gepasst und er hält auch noch in diesem Abschnitt. Dank an den offiziellen Wachstipp und unseren Team-Betreuer für das spezielle Finish! Die Schneeauflage im tiefer liegenden Streckenabschnitt ist deutlich geringer als am Anfang, aber noch ausreichend. Das größere Problem ist, dass es mir jetzt reicht. Kurz vor dem Ziel wird es noch einmal zäh, bis der erlösende Teufelslappen den letzten Kilometer anzeigt und bald der Zielstrich folgt.

Wie immer mischt sich bei mir im Ziel von so langen Läufen Erleichterung mit einer gewissen friedlichen Leere. Entsprechend abgeklärt arbeite ich mich durch die Routinen. Als ich am Ausgang die anderen Mitglieder meiner Gruppe treffe, kehrt die Euphorie zurück. Gemeinsam fahren wir ins Hotel, wo die Abschlussfeier eher kurz ausfällt. Schließlich geht es am nächsten Tag schon sehr früh über Riga wieder nach Hause.

Es gibt nicht viele Rennen, von denen ich spontan sagen würde, dass ich sie gerne bald wieder laufen möchte. Der Tartu-Marathon gehört aber dazu. Wenn die Schneelage mitspielt, ist er für ambitionierte Läufer eine hochsportliche Angelegenheit, für Genussläufer wie mich ist er ein runder Event, der sich vor den anderen großen Skimarathons nicht zu verstecken braucht. „Visit Estonia“ steht auf den Startnummern. Kann ich nur empfehlen.