König Ludwig Lauf Reloaded: Elf Jahre später

Mario Felgenhauer © www.sportonline-foto.de

‚Dranbleiben! Jetzt nur nicht abreißen lassen‘, schießt es mir andauernd durch den Kopf. Wenig später ist erneut eine Lücke da und ich kämpfe wieder allein gegen mich selbst und die letzten Kilometer bis zum Ziel.

Es waren nicht die besten Vorzeichen, unter denen ich in diesem Jahr den König Ludwig Lauf nach elf Jahren wieder einmal in Angriff nehmen wollte. 2004 war meine Zeit als Leistungssportler gerade erst zu Ende gegangen, 2015 ist der Winter die Zeit, in der ich beruflich am meisten eingespannt bin. Das bedeutet deutlich weniger Trainingskilometer im Vorfeld und dann kündigte sich auch noch vier Tage vor dem Start ein Schnupfen an. Mit Zink und Vitamin C sagte ich der Erkältung den Kampf an und konnte diesen vorübergehend am Tag vor dem Rennen gewinnen.

Auch wenn Oberammergau am Freitag und Samstag nicht überfüllt wirkten, so war sie doch zu spüren, die König Ludwig Lauf Stimmung im Ort. Auf den Strecken tummelten sich Profis und Hobbyläufer in friedlicher Eintracht nebeneinander, bei der Startnummernausgabe wurden noch die letzten Insider-Informationen ausgetauscht und die Ausrüstung ergänzt. Nachdem ich die Freistil-Rennen am Samstagmorgen noch mit dem Fotoapparat begleitet hatte, begann meine heiße Phase am Nachmittag. Nach einer letzten Trainingseinheit auf der Strecke gab ich mir selbst die Starterlaubnis für den kommenden Tag. Zum Abendessen gab es natürlich eine große Portion Pasta, die man in meinem Quartier extra für die Teilnehmer am König Ludwig Lauf kredenzte. Und den Abschluss der Vorbereitung bildete traditionell das Ski-Wachsen. Es schien gar nicht so einfach zu sein, das Wetter für den Sonntag vorauszusagen. Jedenfalls wechselte der Bericht täglich. Mit dem Handy holte ich mir, im Wachsraum stehend, die aktuelle Vorhersage des norwegischen Wetterdienstes yr.no, der mich bislang so gut wie nie im Stich gelassen hat. Um die -5 Grad am Start und -2 beim Zieleinlauf sollten es demnach werden. Ich entschied mich für eine Kombination aus Briko Maplus und HWK. Den Steigbereich bereitete ich schon mal mit eingebügeltem grünen Hartwachs vor. Dann war endlich Zeit für die Bettruhe.

Bereits bevor der Wecker klingelt, bin ich wach. Es war eine unruhige Nacht, die Anspannung vor dem längsten Langlaufrennen seit fünf Jahren hat sich bemerkbar gemacht. Aber jetzt bin ich in meiner Routine drin. Zehn Minuten nach dem Aufstehen sitze ich beim Frühstück mit ein paar anderen Mitstreitern. Hunger habe ich eigentlich keinen, trotzdem vertilge ich zwei Vollkornbrotscheiben und eine Semmel. Ohne Brennstoff geht es nicht. Zurück auf dem Zimmer ziehe ich mir meine Rennkleidung an und streife die Startnummer über. Alles andere ist schon fertig gepackt. Dann mache ich mich auf zur Bushaltestelle, die sich keine hundert Meter von meiner Unterkunft entfernt befindet. Mit dem Bus zum Start, eine neue Erfahrung für mich. Die fünf Minuten sind aber äußerst entspannend. In Ettal angekommen, sehe ich bereits drei Reihen mit Skiern in meinem Startblock liegen. Es sind doch noch 1:15 Stunden bis zum Start, denke ich mir nur. Naja, ich gehe erstmal Steigwachsen und Skitesten. Die Bedingungen sind einfach. Ich entscheide mich für Extra Blau und lege erstmal drei Schichten auf. Der Stieg ist perfekt. Zur Sicherheit mache ich noch eine vierte Schicht drüber. Eine Entscheidung, die ich später noch bereuen sollte. Zurück an der Startlinie finde ich doch noch ein gutes Plätzchen, das ich mit meinen Skiern und Stöcken reserviere. Was für ein Zufall, plötzlich stehen Harald und Jürgen vor mir, die ich von Rollski-Rennen kenne. Sie hatten sich bereits vor mir für diesen Platz entschieden und waren nur mal kurz um die Ecke. Jetzt rufen sie in mir Erinnerungen an alte Zeiten herauf.

An meine letzte Teilnahme beim König Ludwig Lauf erinnere ich mich allerdings nur dunkel. Damals war ich im Skating-Rennen an den Start gegangen und hatte mich gut durchgekämpft. 18 Minuten hinter dem Sieger Patrick Rölli aus der Schweiz wurde ich in der Gesamtwertung 40. Ich weiß nur noch, dass ich dennoch nicht ganz zufrieden war. Tja, wie die Zeit vergeht. Ein 40. Platz liegt heute so außer Reichweite, wie der Mond ohne Raketenantrieb.

Endlich ticken die letzten Sekunden bis zum Start nach unten. Dann fällt der Schuss und die Startbanner werden nach oben gezogen. Der Blick ist frei auf die Strecke. Naja, nicht ganz, vor mir sind ja noch circa 200 Eliteläufer losgelaufen. Ich komme gut weg und kann mich nach kurzer Zeit in die lange Schlange einreihen. Allerdings muss ich schon etwas überpacen, um das Tempo mitzugehen. Es folgt die erste Wende auf Höhe des Klosters Ettal und es geht zurück vorbei am Start in den ersten Anstieg. Dort kann ich dank meines gut steigenden Skis einigermaßen mit den Läufern um mich herum mithalten. Es stellt sich nur die Frage: Wie lange? Über diesen ersten Anstieg komme ich gut hinweg und auch die anschließende Abfahrt läuft gut. Vor der ersten Verpflegung wartet aber ein längeres Schiebestück und ich werde langsam von immer mehr Läufern überholt. Im ersten Moment denke ich mir noch nichts dabei und nach einem ersten Becher warmem Iso-Getränk, den ich trotz mitgeführter eigener Trinkflasche gerne annehme, läuft es auch schon wieder besser. Die Bedingungen sind perfekt. Die Spur ist fest, es ist nicht zu kalt und nicht zu warm. Ab und zu spitzt mal die Sonne raus, aber zwischen Kilometer zehn und zwölf beginnt es zu schneien. Fortan gibt es eine schnelle Spur, die alle benutzen und links und rechts davon langsame Spuren, in die niemand ausweichen will. Überholen wird also zum Kraftakt, aber das steht für mich gerade sowieso nicht zur Debatte.


Dann folgt eine Schrecksekunde, als ich zum ersten Mal aus meiner eigenen Trinkflasche trinken will. Der Verschluss ist zugefroren und ich bekomme nichts mehr heraus. Mist, denke ich mir, aber zum Glück gibt es ja alle paar Kilometer eine Verpflegungsstation. Der missglückte Trinkversuch hat mich jedenfalls aus einer gut laufenden Gruppe herauskatapultiert und nur mit viel Kraftaufwand komme ich dort wieder dran. Jetzt beginnt der hügelige Teil in Richtung Schloss Linderhof, wo ich mit meinem gut steigenden Ski Vorteile haben sollte. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Es fällt mir schwer, die kleineren Anstiege hochzulaufen und ich mache nicht wirklich Plätze gut. Es folgt eine weitere Verpflegungsstation ehe es zum Höhepunkt der Strecke geht. Durch das große Tor laufen wir in den Schlossgarten von Linderhof. Eines habe ich mir zumindest von 2004 gemerkt: Der kurze Grätscher am Anfang ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf den Gradmesser der gesamten Strecke, der nur wenige Meter später folgt. In Zweierreihen geht es im Grätenschritt den steilsten Anstieg hinauf, den die Profis vor uns mit Sicherheit durchgeschoben haben. Einer, der es ihnen anscheinend nachmachen wollte, hat sich zwischen uns eingereiht. Mit Skating-Ski und –Schuhen ist er unterwegs und behindert gerade das gesamte Teilnehmerfeld, indem er immer wieder versucht, Lücken zu nutzen, wo eigentlich keine sind. Das Unverschämte dabei aber ist: Er skatet! Irgendwann platzt mir der Kragen und ich springe durch eine Lücke zu ihm nach vorn. Fast zeitgleich mit einem anderen Läufer (er auf Englisch, ich auf Deutsch) rufe ich ihm zu: „Das Skating-Rennen war gestern!“ Das scheint den Falschläufer etwas eingeschüchtert zu haben. Jedenfalls versucht er nun wieder zu schieben. Ich verlasse ihn nach vorn, später überholt er mich aber wieder auf dem Weg zum Ziel. Endlich ist die Steigung zu Ende und es folgt eine schnelle Abfahrt.

Während des ganzen Rennens entdecke ich immer wieder Fotografen an der Strecke. Ich weiß, dass sie zum offiziellen Läuferfoto-Service gehören und versuche etwas fotogener auszusehen, wenn ich an ihnen vorbeilaufe. Das gelingt zu Beginn nur bedingt und am Ende gar nicht mehr. Ich könnte jetzt im Nachhinein auch nicht mehr sagen, wie viele es waren. Aber zumindest habe ich nie einen doppelt gesehen, was mir ernsthafte Sorgen über meinen Gesundheitszustand bereitet hätte. Auf jeden Fall verdankt ihr diesen Fotografen die Bilder zu dieser Reportage. Hier findet ihr euer eigenes: www.sportonline-foto.de

Nach 30 Kilometern spuckt uns der Wald endlich wieder aus auf die Wiesen vor Graswang. Allerdings ist noch eine Schleife zu laufen, ehe es endgültig zurück Richtung Oberammergau geht. Es beginnt die Zeit des Rennens, in der es gilt, keine Gruppe mehr zu verlieren. Ein frommer Wunsch, den ich so nicht erfüllen konnte. Nur mit größter Mühe kann ich im Windschatten einer Läuferin bleiben, die heute eindeutig den schnelleren Ski unter den Füßen hat. Jetzt macht sich die Extra-Schicht Steigwachs leider negativ bemerkbar. Als wir uns bei Kilometer 35 knapp vor der letzten Straßenüberquerung befinden, frage ich mich, wo denn da die letzten elf Kilometer noch sein sollen. Ich weiß es zwar vom Blick auf den Streckenplan am Vortag, will es aber irgendwie in diesem Moment nicht wahrhaben. Meine Kräfte schwinden, als ich in die erste der abschließenden Schleifen im Weidmoos einbiege. Ich bin wieder allein unterwegs, den Windschatten konnte ich nicht halten. Dann passiere ich die 40-Kilometer-Marke und sehne nur noch das nächste Schild herbei. Immer wieder muss ich das Doppelstockschieben mit ein paar Diagonalschritten unterbrechen. Und von hinten droht neues Ungemach. Eine Gruppe um eine weitere Läuferin nähert sich mir rasant. Drei, vier Kilometer vor dem Ziel haben sie mich eingeholt. Ich springe direkt in den Windschatten, als mich die Dame überholt, die auch hier die Gruppe anführt. Es ist schon komisch, was einem in solchen Momenten für Gedanken durch den Kopf schießen! ‚Dranbleiben, nur nicht abreißen lassen‘, wechselt sich mit so banalem ab wie: ‚Ich muss den Schlüssel zur Tiefgarage noch abgeben, in der mein Auto steht!‘ Zwei Kilometer vor dem Ziel hat mich dann auch diese Gruppe abgeschüttelt. Jetzt weiß ich aber zumindest ganz genau, was noch auf mich wartet und das macht diesen letzten Abschnitt deutlich leichter. Ein Aufmunterungsruf von Andi, der mir entgegenkommt, sowie von Alex Wolz, der schon beim Auslaufen ist, pushen mich zusätzlich und so biege ich endlich auf die Stadionrunde ein. Noch einmal muss ich Gas geben, um nicht noch einen Platz zu verlieren. Soviel Ehrgeiz steckt schon noch in mir. Dann ist es geschafft. Ich gleite über die Ziellinie.

Mein erster Gedanke: Was soll ich denn über dieses Rennen schreiben? Ich kann mich doch an gar nichts mehr erinnern. Die Erinnerung kommt erst im Gespräch mit Freunden wieder, die ich bei der Läuferverpflegung in der Turnhalle treffe. Eine Portion Nudeln und ein Getränk später schaut die Welt dann auch schon wieder ganz anders aus. Mit 2:56:30 Stunden habe ich schließlich Gott sei Dank mein selbstgestecktes Ziel erreicht, unter drei Stunden zu bleiben. Und das Beste daran ist: Ich weiß nun meine Platzierung aus dem Jahr 2004 so richtig zu schätzen.