Von Michael Richter
Für die Rennradtour zur Ostsee ergab sich in diesem Jahr ein größeres Zeitfenster, also stellte sich die Frage, wie dieses sinnvoll auszufüllen ist. Mein ebenfalls sehr radaffiner Kumpel Sven ließ sich für anderthalb Wochen radeln begeistern. Ein selten gewähltes Ziel sollte es sein, ein ungewöhnliches wurde es: die Hohe Tatra in der Slowakei, das kleinste Hochgebirge in Europa. Die Planung sah 10 Tage plus einen Reservetag vor.
An einem Donnerstagmittag im Juli war dann Start, erstes Ziel Jizerka (Klein Iser), der Wendpunkt des legendären Iserlaufes (Jizerka 50) auf Langlaufski. Nach 165 km u.a. durch das Zittauer Gebirge, Polen und mit abschließendem langem Anstieg von Heinice (Heinersdorf) waren wir pünktlich zum Abendbrot im Pansky Dum, dem sehr schön hergerichteten alten Herrenhaus des Ortes. Die zweite Etappe führte vorbei an den bizarren Kletterfelsen in Adrspach hinein nach Polen. Wir hielten uns nun immer nördlich des Glatzer Berglandes gen Osten. Große Straßen sind in Polen in gutem Zustand, die vielen von Komoot empfohlenen Nebenstraßen stellten dagegen eine echte Herausforderung an Mensch und Material dar. Von schlecht geflickten Teerstraßen, über Kopfsteinpflaster bis hin zu fehlendem Belag war alles dabei, letzteres zum Glück nur selten. Ziemlich durchgeschüttelt haben wir in Vidnava (Weidenau) in einem tschechischen Zipfel nach 200 km übernachtet.
Am nächsten Tag ging es hügelig los, wurde rasch flach und so flogen wir gen Osten, mal in Tschechien, mal in Polen bis hinein in die Beskiden nach Usjoly. Das wie gewohnt auf gut Glück gesuchte Quartier erwies sich als Volltreffer: herzlicher Empfang, nettes Zimmer, leckeres Essen und der Vermieter mit guten Deutschkenntnissen war ehemaliger polnischer Juniorenmeister im Biathlon, Trainingspartner vom Olympiamedaillengewinner und Weltmeister Tomasz Sikora. Da hatten wir einen kurzweiligen Abend mit winterlichem Gesprächsstoff. Am Sonntag gab es durch die feststehenden Kirchenzeiten erst ab 8.45 Uhr Frühstück. Das war für uns ok, da früh ohnehin nur 5°C waren und die letzte Etappe sich mit 150 km überschaubar darstellte. Wir fuhren in die Slowakei ein, wechselten nochmal nach Polen mit herrlichem Blick auf die lange Gebirgskette der Beskiden, Westtatra, Hohe Tatra und Mala Fatra. Im polnischen Grenzort Chocholow gab es alte Holzhäuser mit einzeln genagelten Holzschindeldächern zu bestaunen – das war uns dann doch einen extra Stopp wert! Hügelig näherten wir uns dem Finale der Hintour, dem 7 km langen und mit 700 Höhenmetern versehenen Anstieg zum Slaszky Dum, dem Schlesierhaus auf 1760 m Höhe. Der war recht gleichmäßig und damit gut zu bewältigen. Bei herrlicher Sicht standen wir 18 Uhr am Ende des Fahrweges vor dem Berghotel – nach vier Tagen und 735 km hatten wir uns das leckere Buffet redlich verdient. Unstrittiger Höhepunkt waren übrigens die mit Nougat gefüllten Teigtaschen in warmer Butter mit Mohnzucker.
Der nächste Tag sollte ein Ruhetag werden. Aber ich hatte extra meine alten Mountainbike Schuhe mit Profilsohle für unsere Tour ausgewählt und so stieg ich dann hinauf zur Vychodna Vysoka (2429m), beobachtet von einigen Gämsen. Am Gipfel bot sich herrliche Sicht zum Gerlach (2654m) als höchster Berg bis hinüber zur Lomnitzer Spitze. Nach Abstieg mit Abstecher in ein Seitental war der (Ruhe-?) Tag rasch vorbei. Mit 1000 Höhenmetern in den Beinen ging es noch kurz in die Sauna und erneut zum Schlemmerbuffet. Der Tag danach war für mich recht hart, da sich der der Muskelkater vom Vortag bemerkbar machte – offensichtlich war das Schuhwerk nicht optimal gewesen. So musste mein Radkumpel Sven in sengender Hitze die meiste Führungsarbeit übernehmen. Wir fuhren die gleiche Strecke zurück, ließen die Beskiden hinter uns und suchten eine Übernachtung in Bohumin. Hier benötigten wir auf dieser Reise erstmalig mehrere Anläufe für ein freies Quartier, aber nach zwei Stunden war auch das gefunden. Eva, unsere Wirtin, hat mit gewissem Mitleid abends 21.30 Uhr noch Rührei mit Knoblauch gezaubert, was nach 250 Radkilometern rasch vertilgt war.
Der nächste Morgen ließ schon erahnen, dass es wieder ein sehr heißer Tag wird. Mit 35°C und Sonne satt wurden wir da nicht enttäuscht. Wir fuhren durch Leobschütz, einem schlesischen Ort, in dem meine Mutter vor ziemlich genau 80 Jahren eingeschult wurde, weiter gen Westen, um kurz vor Walbrzych (Waldenburg) in einer alten Burg mit Brauerei Quartier zu finden. Hier im schlesischen Teil Polens hat die Geschichte viele und nicht nur schöne Zeitzeugen hinterlassen: die alten deutschen Bauernhöfe, welche nach dem 2. Weltkrieg verlassen werden mussten (Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung), verbunden mit einer Zwangsumsiedlung von Menschen aus Ostpolen hierher. Seitdem verfallen diese Gehöfte nach und nach, auch wenn sie zum Teil noch bewohnt sind. In unmittelbarer Nähe finden sich in einigen Orten Eigenheimsiedlungen – hier ist wohl doch etwas gründlich schiefgelaufen. Die letzten 30 km vor der deutschen Grenze in Guben waren nochmal ein historisches Highlight. Die Zeit schien stehen geblieben, Häuser wie vor 100 Jahren, die Straßen nur zum Teil mit Belag, oft Kopfsteinpflaster aus des Kaisers Zeiten (das große, für Rennräder gänzlich ungeeignete!). Die Menschen schienen sich dem Zustand angepasst zu haben. Wäre da nicht ab und an ein relativ modernes Auto gewesen, ich hätte an einen Zeitsprung geglaubt. Kurz vor der deutschen Grenze war der Spuk vorbei und die erste Übernachtung auf unserer Tour auf deutscher Seite perfekt.
Für den kommenden Tag gab es zwei Optionen: gemächlich fahren und nochmals übernachten oder die reichlich 300 km bis nach Karlshagen auf Usedom durchziehen. Da eine Flachetappe anstand, visierten wir letzteres an. Wir hatten die Rechnung allerdings ohne den straffen Nordwestwind gemacht und so war es doch weniger ein dahingleiten als viel mehr harte Arbeit mit regelmäßigem Führungswechsel. Es war dann auch der erste Tag auf der gesamten Tour, an dem wir die Beleuchtung am Rad benötigten. Wir waren froh, als wir 21.30 Uhr nach 13,5 Stunden, davon 11 auf dem Rad, endlich in Karlshagen ankamen. Das Zelt war schon aufgebaut und es warteten Tage mit Schwimmen und Volleyball auf uns. Und irgendwann die Heimfahrt mit dem Rad….
Was bleibt von dieser herrlichen Tour? Suche Dir ein Ziel, visiere es an und brich auf – der Weg lohnt in jedem Fall! Wir waren 9 Tage unterwegs, davon 8 auf dem Rad, sind 1750 km in 65 Stunden reiner Fahrzeit ohne eine Panne geradelt und ich habe sogar noch einen Berg bestiegen. Die langgezogene Bergkette vom Isergebirge, über Riesengebirge, Glatzer Bergland, Beskiden bis zur Hohen Tatra war schier beeindruckend, die Abstecher ins Gebirge anspruchsvoll. Wir haben Land und Leute auf unsere sportliche Art und Weise kennengelernt und in unser Herz geschlossen, da bleibt ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit und Zufriedenheit zurück.