Rollski-TransAlp vom Bodensee zum Comer See

Georg Fenzke am Startort Bodensee © Georg Fenzke

Von Georg Fenzke

Mai 2018: Das Wetter ist trocken, die Passstraße schneefrei. Seit einigen Tagen bin ich in den Bergen unterwegs. Im Schatten der aufstrebenden Mauer des gezackten Gipfelkamms geht’s mit Doppelstockschub über die Passhöhe. Vor sieben Jahren durchquerte im Winter unsere Skitourengruppe von Bivio her die Albulaberge. Am fünften Tag stiegen wir auf das Flüela Wisshorn (3085m). Vom Skidepot kletterten wir über den Nordost-Grat zum Gipfel. Jetzt stehe ich siebenhundert Meter tiefer auf Rollski am Straßenrand und genieße den Ausblick.

Pfingstmontag

In Lindau beginnt der lange Lauf über die Alpen. Die Etappen werden mit Klassik- oder Skating-Rollski zurückgelegt. Für den letzten Tag sind Cross-Rollski geplant. Die Verpflegung wird unterwegs eingekauft, das Essen selbst zubereitet. Ein kleines Zelt mit Isomatte und Schlafsack dient zur Übernachtung. Auf mich allein gestellt werde ich zwischen den Etappenorten zusätzlich mit Bahn und Auto pendeln. Die geplante Strecke läuft zunächst am Bodensee entlang, dann in südlicher Richtung am Alpenrhein bis Landquart und von dort ins Prättigau. In Davos biegt die Bergstraße links ab zum Flüelapass. Nach der Abfahrt ins Unterengadiner Hochtal windet sich die Route südwestlich hinauf ins Oberengadin. Ist der Malojapass erreicht, rollt man bergab durch das Bergell nach Chiavenna, von dort in der Ebene zum Lago di Mezzola und schließlich zum Comer See.

Dienstag

Rauer Asphalt © Georg Fenzke

Für die flachen Wege auf dem Rheindamm eignen sich Rollski mit kleinen schmalen Gummirädern, die in der freien Lauftechnik ihre Vorteile ausspielen. Der Asphalt ist teilweise sehr rau. Die grandiose Sicht im Rheintal auf die umliegenden Berge weckt Erinnerungen. Ein kleiner Trupp vom Radsportverein radelte von Tübingen hier entlang zum Comer See. Wir starteten in der Morgendämmerung, fuhren über die Schwäbische Alb, Lindau, Bregenz, Chur, Via Mala und Splügenpass teilweise bei drei Grad Celsius und Regen nach Süden. Im Sonnenuntergang erreichten wir den See in Oberitalien.

Mittwoch

St. Moritz © Georg Fenzke

Die dritte Etappe startet in Landquart im Bündner Rheintal. Im ansteigenden Gelände kommen heute die Klassik-Rollski zum Einsatz. Unerwartet viele Schotterpisten und selbstverschuldete Umwege über Dörfer wie Fideris und Strahlegg kosten zusätzliche Körner. Ab Küblis holpern die breiten Gummirollen über grob befestigte Wege. In den Zwischenabfahrten verzögere ich die Geschwindigkeit mit der üblichen Pflugbremstechnik und, wenn nötig, mit den vorn montierten Speedreducern. Nach der Gemeinde Klosters kommt der wirklich unangenehme Teil der Tagestour, die neun Kilometer lange, viel befahrene Bergstraße bis Davos. Sie hat keinen Beiweg und auch keinen Seitenstreifen. In der klassischen Lauftechnik brauche ich zum Glück wenig Platz und habe so mehr Sicherheit. Spät zurück im Camp wird klar, dass ein Tag Pause sinnvoll wäre, um nach zwei weiteren Etappen das Ziel in Colico zu erreichen.

Freitag

Die vierte Etappe beginnt am See der höchstgelegenen Stadt Europas. Die Passstraße ist feucht vom Nachtregen. Rechts verläuft im Winter die Weltcup-Strecke. Es ist noch dunkel. Gleichmäßig laufe ich in der Diagonaltechnik bergauf. Allein das Rauschen des Flüelabachs ist zu hören. Zweifel kommen auf. Reicht meine Ausdauer für einen konstant dynamischen Berglauf im klassischen Stil? Wieviel ist nach achtundsechzig Langlauftagen der Wintersaison von der guten Form noch übrig? Dass vor zwei Jahren meine erste Hochgebirgsüberquerung unter ähnlichen Voraussetzungen gelang, stimmt mich wiederum zuversichtlich. Auf schönen Wegen und ruhigen Nebenstraßen lief ich in drei Tagen von Mittenwald zum Gardasee. Dabei hatte ich viel Freude und konnte jeden Meter rollen. Am Hospiz auf der Flüelapasshöhe lädt eine Bank zum Sitzen ein. Daneben das Schild: Picknicken unerwünscht. Also gut. Wo Skitourengeher ihre Autos parkieren, hocke ich auf einem großen Stein und frühstücke Fisch, Brot und Wasser. Die Luft ist klar und kalt. Während eine Gruppe mit ihren Fellski noch aufsteigt, fährt ein anderer in großen Radien bergab. Dann geht es weiter. In der ersten steilen Abfahrt schnalle ich ab und gehe zu Fuß. Zehn Prozent werden angezeigt. Ich verlasse die Straße und wandere über Schneefelder und steile Hänge talwärts. Mächtige Lawinen haben die Brücken der reißenden Bäche zerstört. Mit etwas Umsicht findet sich immer eine Schneebrücke, die noch trägt. Zurück auf der Straße kann die eine oder andere flache Passage gerollt werden. Schließlich wandere ich über die Weiden talwärts und nehme in Susch im Unterengadin die Bahn.

Samstag

Fünfte Etappe. Am frühen Morgen laufe ich mit Crossrollski von Susch über Zernez nach S-chanf im Oberengadin. Ab da hat’s eine Inlineskate-Piste, die nach sieben Kilometern in Chamues-ch endet. Es folgen schwierigste Schotterwege. Die Baustellen und Wegverlegungen kosten Nerven und Kraft. Dabei sind heute meine Rollski mit den größeren Rädern und der Luftbereifung für leichtes Cross-Gelände geeignet. Im Winter verlaufen im breiten Hochtal die Loipen des Engadiner Skimarathons. Hätte nicht übel Lust, die robusten Rollgeräte gegen leichte Langlaufski einzutauschen und entspannt auf gewalztem Schnee zu gleiten. Vor einigen Wochen bin ich hier über den zugefrorenen See gelaufen. Jetzt erlauben die groben Uferwege das mühsame Vorankommen meist nur in der Doppelstock-Stoßtechnik.

Unterwegs © Georg Fenzke

Zweites Frühstück am Malojasee. Ausruhen und Kraft tanken. Bis zum Comer See ist es noch weit. Im Winter gelangen mir drei Marathons und ein Hundert-Kilometer-Lauf auf dem Rennsteig. Heute wird es nicht weniger. Also fertigmachen für die Abfahrt. Die Bremsen, Räder und Bindungen scheinen in Ordnung zu sein. Die Passstraße verlangt Konzentration auf das Geschehen und optimale Kontrolle der Ski. Der Verkehr und der Straßenbelag sind zu beachten, das Gefälle und die Radien der Kehren richtig einzuschätzen. Das Bergell ist beeindruckend und weckt Erinnerungen an eine schöne Familienwanderung zum Albigna-Stausee und leider auch an den Bergsturz vor nicht mal einem Jahr mit acht Todesopfern. Einige Radler grüßen, ein asiatischer Gepäckfahrer hält an und fotografiert mich. Ab und zu bleibe ich an einer schattigen Stelle neben der Straße stehen und warte, bis die Reifen und Bremsen etwas abgekühlt sind. Im Ganzen läuft es gut. Allein die zwei Münchner Ferraristi nerven etwas, weil sie röhrend zum dritten Mal vorbei rasen. Nach der Staatsgrenze im Tal des Fiume Mera ist der Fahrbahnbelag durchgängig gerissen und verlangt Aufmerksamkeit. Die Hitze nimmt zu. Jede Ortsdurchfahrt ist pittoresk und vermittelt einen Hauch Mittelalter. Endlich in Chiavenna. Entspannte Menschen, kühler Schatten zwischen alten Häusern, Restaurants laden zu Pizza und Vino di Valtellina ein. Eine Pause hätte gut getan. In der Ebene dörrt die Hitze den Körper aus und trübt die Wahrnehmung. Vermeidbare Orientierungsfehler führen zu ärgerlichen Umwegen. Die Wasserflasche ist fast leer. Die Sonne brennt, die Luft flimmert. Plötzlich ein lauter Knall. Ein Hinterreifen ist geplatzt. Der Überdruck in den anderen Reifen muss sofort vermindert werden. Um das Rad auszubauen und den Schlauch zu wechseln, fehlt der passende Torx. Nach langwieriger Reparatur geht es weiter. Müdigkeit macht sich zunehmend bemerkbar. Die Bewegungen werden langsamer. Am Lago di Mezzola hat’s eine schöne Bar unter Palmen. Zwei Tassen Espresso, viel Wasser und ein Telefonat nach Hause stellen mich wieder her. Ich kann mir jetzt Zeit lassen. Die letzte Bahn ist nicht mehr zu erreichen und jedes Hotel am See ausgebucht. Das aufziehende Gewitter, der Batteriewechsel am Navi, der Verkehr, auch die teilweise maroden Straßen und Wege interessieren nicht wirklich. Der See ist das Ziel. Der See! Dann endlich am Pier von Colico. Ich empfinde Freude und Dankbarkeit. Und bin mit allem zufrieden: Salat, Bier und Pizza im Ristorante Portovino, die dunklen Wolken in den Bergen, die Reds gegen Real und das Bivak am Seeufer. Vermutlich bleibt’s über Nacht trocken. Gegen die zunehmende Kälte schützt nur die dünne Windjacke. An Schlaf ist nicht zu denken. So bleibt Zeit, stundenlang die Enten zu beobachten und das Erlebte vorbeiziehen zu lassen.

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